Siegfried Hummel

                                               Das Europa der Enkel

                                          für Henrike, Lea, Nils, Jos                             

Manche Großeltern können ihren Enkeln noch erzählen, dass sie als Kinder die Filme über Bergen – Belsen und Auschwitz sahen, hinfort keine Deutschen mehr sein wollten, dann aber begeisterte Europäer wurden: „Europa war ihre einzige Hoffnung auf Erlösung“ (Brzezinski 2000: 94ff), als Winston Churchill 1946 die Franzosen und die Deutschen aufforderte, Freunde zu werden damit Europa vereinigt werden könne. – Damals klafften die Zukunftshoffnungen der Kriegskinder und die Alltagssorgen ihrer Mütter weit auseinander: die meisten deutschen Männer waren noch in Gefangenschaft, aus den „deutschen Siedlungsgebieten im Osten“ (Kossert 2008: Landkarte) kamen 12 Millionen Vertriebene nach Westdeutschland und vier Millionen suchten in Mitteldeutschland Zuflucht (ebenda: 9ff). Die Flüchtlinge wurden in ländlichen Gemeinden und in Nissenhütten“ (ebenda: 69) zwischen Trümmerhalden in Großstädten untergebracht. Manche Einheimische im Westen nannten die Vertriebenen „Polacken- Pack“ (ebenda: 43) und die Flüchtlinge, die nach Mitteldeutschland kamen, galten als die „verschwiegenen vier Millionen“ (ebenda: 193ff), weil sie „Umsiedler“ (ebenda: 215) genannt werden mussten.   

Die Deutschen, die im westlichen Teil Deutschlands zusammengezwungen worden waren, schufen  – von den Amerikanern unterstützt – binnen weniger Jahre das „Wirtschaftswunderland“ (ebenda: Buchumschlag) und gründeten 1949 die BRD. In Mitteldeutschland setzte die sowjetische Besatzungsmacht eine Regierung aus deutschen Kommunisten ein, welche die Nazizeit in Gefängnissen und im Exil überlebt hatten: sie gründeten, ebenfalls 1949, die DDR. Und auch die Aufbauleistungen der Alt-und Neubürger in Mitteldeutschland beeindruckten, zumal damals noch ganze Betriebe demontiert und in die UdSSR verbracht wurden. Der Aufstand der DDR-Bürger im Jahr 1953 zeigte, dass der erste deutsche „Arbeiter-und Bauernstaat“ nur so lange fortbestehen werde, wie die sowjetische Besatzungsmacht in der DDR bleiben würde.    

Für die Westdeutschen schien 1963 der Europa-Traum Churchills wahr zu werden, als die  Bundesrepublik Deutschland und die Republik Frankreich Freundschaftsverträge schlossen und für alle Deutschen schien er in Erfüllung zu gehen, als 1993 die Europäische Union gegründet wurde, dessen bevölkerungsreichstes Mitglied das wiedervereinigte Deutschland war.

Als die Regierungen aller EU- Mitgliedsländer ankündigten, 2004 dem Entwurf einer EU-Verfassung zustimmen zu wollen, glaubten manche Europäer, nun sei „…eine transnationale politische Institution im Werden …, die in jeder Hinsicht wie ein Staat funktionieren wird“ (Rifkin 2004: 226).-  Dem widersprach Ralf Dahrendorf: „Die Europäische Union ist keine Demokratie und ist auch nach dem sogenannten Verfassungsentwurf nicht auf dem Weg dorthin“ (Dahrendorf 2003:123); er empfahl, auch weiterhin nur auf Nationalstaaten zu setzen, welche „die Homogenität nicht zum Prinzip erheben, sondern ihre Bürgerrechte Menschen vielfältigen Ursprungs und Orientierung anbieten, [denn] die liberale Ordnung in solchen [kulturell heterogenen] Nationalstaaten ist eine der großen Errungenschaften der menschlichen Zivilisation“ (ebenda 119).

2004 forderten Ulrich Beck und Edgar Grande, „das kosmopolitische Europa“  müsseein „Empire“ (Beck/Grande 2004: 57) werden. Dieses „Sowohl-als-auch-Europa“ sei notwendig, weil „die Machterweiterung der supranationalen Ebene“ nicht den „Machtverlust der nationalen Ebene“  bewirken dürfe.„Vielmehr gilt umgekehrt: Nationalität, Transnationalität und Supranationalität“ müssen sich gegenseitig „stärken und ergänzen“ (ebenda: S.35).

2007 legte der Journalist Alan Posener sein Buch „Imperium Europa, warum Europa eine Weltmacht werden muss“, vor. Demzufolge wurde Europa bereits vereinigt, weil z. B. die Rechtsakte der Bundesrepublik Deutschland schon zu „84%“ aus „Brüssel“ (vgl. S. 131) stammten. Herfried Münkler zitierend, sagte Posener dem entstehenden „liberalen Imperium“  Europaeine „längere Dauer“ (ebenda:126) voraus, weil es auch in seine Randbereiche investiere.

Einige Jahre später erklärte Seyla Benhabib: „Einerseits ist der Nationalstaat heute zu klein, um mit den ökonomischen, ökologischen, immunologischen, kommunikativen und informationellen Herausforderungen des Zeitalters fertig zu werden, die durch den globalisierten Kontext entstanden sind; andererseits ist der Staat zu groß, um den Aspirationen durch Identitätsfragen mobilisierter sozialer und regionaler Bewegungen gerecht zu werden“ (in Baron 2014: 36). Damit erklärte die Yale-Professorin alle bisher diskutierten europäischen Vereinigungsmodelle zu Makulatur: der Staatenbund, das  „Europa der Vaterländer“ (de Gaulle), der Bundesstaat, die „Vereinigten Staaten von Europa“ (vgl. Verhofstedt 2006), das „Empire Europa“ (Beck/Grande 2004) und auch das „Imperium Europa“ (Posener 2007) sind allesamt Nationalstaatsmodelle!         

Es war aber nicht nur unklar geworden, wie Europa sein möge; es blieb auch umstritten, was zu Europa gehören sollte: 1996 hatte Samuel P. Huntington postuliert: „Europa hört dort auf, wo das westliche Christentum aufhört und Orthodoxie und Islam beginnen“ (Huntington 1996: 252); im gleichen Jahr verkündete Michail Gorbatschow aber auch: zwischen Lissabon und Wladiwostok „existiert…. Großeuropa“; dafür „sprechen“ die „allgemeinen christlichen Wurzeln“ und „die historischen Gemeinsamkeiten der europäischen Kultur“ (Gorbatschow 2015: 438ff)! Und als Shimon Peres gefragt wurde, ob auch „Israel seine Zukunft  in der EU sieht, antwortete er ohne zu zögern: Natürlich. Geschichtlich und kulturell gehört dieser Raum zu Europa“ (Posener 2007: 88). Damit hoben zwei säkulare Staatsmänner der Jahrtausendwende neben Rom, „eine weitere Quelle unserer Zivilisation wieder ins Bewußtsein: Byzanz [das] nach dem Untergang des weströmischen Reichs….fast tausend Jahre lang, Ordnung, geistiges Erbe und Zivilisation der Antike im vorderen Orient und auf dem Balkan gegen die Eroberungsgelüste der Steppenvölker und der arabischen und türkischen Imperialisten“ (Posener 2007:105) verteidigt hatte: der vormalige Generalsekretär der KPdSU war nun  „davon überzeugt, daß es zur Demokratie keine Alternative gibt“ (vgl. Gorbatschow 2015:517); indem er „die Ostgrenze der westlichen Zivilisation“ (Huntington 1996; 253) an die russische Pazifikküste verlegte, verortete er „Großeuropa“  im „westlichen Kulturkreis“ (Huntington 1996: 246ff) und der Israeli Shimon Peres sprach den Mehrheiten im Libanon, in der Türkei, in Kurdistan, in Jordanien, in Syrien und in Palästina zu, auch Europa angehören und damit ebenfalls dem Westen zugehören zu wollen.

Peres war offenbar davon überzeugt, dass die Mehrheit der Muslime im Nahen Osten letztlich den „Euro – Islam“ leben wollen, den  Bassam Tibi zehn Jahre zuvor beschrieben hatte (vgl. Tibi 1998: 256). Tibi – deutscher Staatsbürger syrischer Herkunft muslimischen Glaubens, Schüler von Max Horkheimer, Politikwissenschaftler an der Universität Göttingen –  hatte 1998 postuliert: der Euro-Islam entstand, als islamische Gelehrte – allen voran „der große islamische Philosoph“ el Farabi (gest. um 950) und die islamischen Universalgelehrten Averroes (gest. 1037) und Avicenna (gest.1198) – „Aristoteles  durch einen  Nebeneingang zurück nach Europa brachten“ (ebenda: 123). Ihr hellenisierter “ Hochislam“ manifestierte sich in der überlegenen Hochkultur der Mauren in Andalusien. „Aristoteles wurde von Cordoba aus“, in das rückständige christliche Europa „eingeführt“  (ebenda: 122 ff); der Euro-Islam leitete die europäische Renaissance ein; „Europa hat seine Identität erst in der Auseinandersetzung mit dem Islam gefunden“ (ebenda: 350)!    

Sieben Jahre nachdem Gorbatschow „Großeuropa“ avisiert hatte, vier Jahre bevor Shimon Peres` sagen wird, auch der Nahe Osten gehöre zu Europa, ein Jahr bevor die Regierungen aller EU- Mitgliedsstaaten ankündigten, dem EU-Verfassungsentwurf zustimmen zu wollen, zwei Jahre bevor die Spanier diesen in einer Volksabstimmung annehmen und drei Jahre bevor die Franzosen und die Niederländer diesen – ebenfalls in Volksabstimmungen –  ablehnen sollten, beschrieb Dahrendorf Europa so: „Paradoxerweise ist Europa trotz der neuen Rhetorik des Europäertums nie stärker in nationale Kulturen gespalten gewesen als es das heute ist“ (Dahrendorf 2003: 122).

Dieses Verdikt hat Europa in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts vollends ereilt: die AfD verlangt den Austritt der Bundesrepublik Deutschland aus der EU; Ungarn und Polen liquidieren ihre liberalen Demokratien, womit sie ihre EU-Beitrittsversprechen (vgl. LETTRE INTERNATIONAL 125, Sommer 2019 :13ff) brechen und die EU vergiften, weil sie aus dieser nicht ausgeschlossen werden können. Nach dem BREXIT drohte der FREXIT, weil sowohl die französischen Rechtspopulisten die Vereinigung Europas ablehnen, als auch die populistische Linke Frankreichs euroskeptisch polemisierte. Und in Italien wurde 2022 eine postfaschistische Mehrheit gewählt: Europa ist zwar reich, aber schwach und wirkt Autokraten gegenüber, hilflos (vgl. DER SPIEGEL Nr. 18/30.4.2021: 40): „…seit Wladimir Putins erstem Amtsjahr sind 28 Journalisten getötet worden“  (Atai 2019: 349); mitten in London und in Berlin und in Moskau wurden russische Regime-Gegner ermordet dennoch beteuert der ehemalige deutsche Bundeskanzler, Schröder  weiterhin, mit Wladimir Putin befreundet zu sein, obwohl dies als „Elite Capture, eine ganz besondere Form der Korruption“ (Kampfner 2021:108) gilt. Wagenknecht und Gysie verkündeten, es sei nicht erwiesen, dass Nawalny (in Sibirien!) von einem russischen Geheimdienst vergiftet worden sei und ehemalige SED-Altkader, die via DIE LINKE in das Europaparlament gelangt waren, schmiedeten mit griechischen und italienischen Faschisten eine „rot-braune Pro-Putin-Allianz „(Atai 2019: 346). Erdogan lieferte dem turksprachigen Aserbeidschan moderne Drohnen und ermutigte es mit neosmanischer Rhetorik, Berg-Karabach anzugreifen, was tausenden jungen, meist wehrpflichtigen Armeniern das Leben kostete (vgl. LETTRE INTERNATIONAL * 133* Sommer  2021: 40ff); Putin machte sich daran mitschuldig, denn er hätte diesen Krieg verhindern können, weil Russland beansprucht, für „sein nahes Ausland“ (Huntington 1996: 260) allein zuständig zu sein.

Die Verlockung  des Autoritären“ (Appelbaum in DER SPIEGEL Nr. 10/6.3.2021:80), der wiedererwachte Nationalismus, der Separatismus in Korsika, Flandern, in Italien, in Katalonien und auf dem Balkan, wo er vor„ethnischen Säuberungen“ (Dahrendorf 2003: 40) nicht zurückschreckt, haben eine Hauptursache: „In der globalisierten Welt hat der Hang zum begrenzten Teil eines größeren Gemeinwesens als Ort der Zugehörigkeit“ (ebenda: 39) zugenommen: Nationalisten, Separatisten und Autokraten sind dort besonders erfolgreich, wo die Lebenswelten der Globalisierungsverlierer und der Globalisierungsgewinner auseinanderdriften (vgl. ebenda: 102). Immer mehr Erben großer Vermögen besuchen Kindergärten, Schulen und Hochschulen, wo sie unter ihresgleichen bleiben; manche fühlen sich als „global Players“ und nutzen Steueroasen. Das wird von der großen Gruppe derer, „die zwar eine halbwegs erträgliche Existenz haben, aber von den neuen Möglichkeiten des Wohlstandes nicht viel mitbekommen haben…“ (Dahrendorf 2003: 93), als Wohlstandsverwahrlosung und Eliteversagen wahrgenommen. Von diesem Kulturpessimismus der staatstragenden Mittelschicht geht eine „latente Faschismusgefahr“ (ebenda: 92) aus :“…fragile Mitte, feindselige Zustände, rechtsextreme Einstellungen in Deutschland“ (Zick/Klein, Friedrich- Ebert-Stiftung 2014) und der Aufstand der „gelben Westen“ in Frankreich sind bekannte Folgen.

Diese Segregationen müssen in Nationalstaaten, in denen „die Herrschaft des Rechts lange vor der Durchsetzung demokratischer Institutionen“ (Dahrendorf 2003: 111) errichtet wurde, besonders ernst genommen werden: Z.. B. entstand der deutsche Rechtsstaat nicht in Zeiten der Demokratie sondern im alten Preußen; an dessen Anfang stand „die Staatsverwaltung und nicht eine Magna Charta“ (ebenda: 110), wie in England oder die „Genossenschaft“ (ebenda: 111), wie in der Schweiz. Das kann in Krisenzeiten entscheidend sein: während der großen Weltwirtschaftskrise gaben die Deutschen ihre Demokratie auf, aber in der Schweiz galt: „Die genossenschaftlichen Bindungen sind die Lebenswelt; weil es sie gibt, ist der Staat, ist Politik nicht all-wichtig“ (ebenda) und in England stellte die „rule of law“ eine „unentbehrliche Rückfallposition“ (ebenda:112) dar. Damit wird in einer Zeit, in der die liberale Ordnung „unter Druck“ (ebenda: 106) gerät, die Frage aufgeworfen, ob das neue Europa nach dem Vorbild der Schweiz oder ob es nach dem Vorbild von Westminster entstehen soll. 

Um die Jahrtausendwende war dazu eine wichtige Arbeit erschienen: der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber unterschied in seinem Hauptwerk „Starke Demokratie“ (1994) zwischen „Konkordanzdemokratie“ nach dem Vorbild der Schweizund „Konkurrenzdemokratie“  nach dem Vorbild von Westminster. Demzufolge sucht die Konkordanzdemokratie mit Kollegialorganen, in denen alle wichtigen politischen Strömungen vertreten sind und mit Volksentscheiden den Konsens; hingegen betont die Konkurrenzdemokratie mit ihrer „Machtbalance aus Exekutive und Legislative“ (Wikipedia: Benjamin Barber) den Dissens und führt dann eine Mehrheitsentscheidung herbei.

Daraus kann geschlossen werden, dass dort wo liberaldemokratisch gesinnte Europäer die Mehrheit haben, diese die alten Nationalstaatsgrenzen ignorieren und kulturell heterogene subsidiäre Konkordanzdemokratien errichten könnten, damit die „liberale Ordnung“ (vgl. Dahrendorf 2003:125) ebenso krisenfest wird, wie sie schon seit 700 Jahren in der Schweiz ist. Aber überall dort, wo die liberale Ordnung wieder erkämpft (Ostmitteleuropa) und dort, wo sie errichtet werden muss (Belarus, Russland, Naher Osten, Nordafrika), werden Konkurrenzdemokratien unverzichtbar sein, weil dort liberaldemokratische Avantgardes den Dissens betonen müssen, um Autokraten und Diktatoren entmachten und um den Unterdrückten und Unterwürfigen einen Ausweg aus ihrer fremd- oder selbstverschuldeten Unmündigkeit aufzeigen zu können.  

Ulrich Beck hatte 2004 noch für das „Empire“ geworben (s.o.), aber zuletzt (gest.2015) dann doch  „Wir sind Europa! Manifest zur Neugründung der EU von unten“ (Wikipedia, Ulrich Beck)  postuliert und damit für die (subsidiäre) Konkordanzdemokratie votiert. Und auch Ralf Dahrendorf – der noch 2003 dem kulturell heterogenen, konkurrenzdemokratischen Nationalstaat ein Loblied gesungen hatte (vgl.Dahrendorf 2003: 119) –  hinterließ (gest.2008) ebenfalls zwei Bemerkungen, die ebenso gedeutet werden können: erstens ist der  „Lokalismus“ im Unterschied zum „neuen Regionalismus“,….. nicht „demokratiefeindlich“ (ebenda: 118); …„in vielen Teilen Deutschlands ist die Gemeindeautonomie eine der stärksten Stützen der Demokratie…,Ausdruck  demokratischer Selbstbestimmung“ (ebenda) und damit eine Garantin für die „liberale Ordnung“ (ebenda:125); zweitens ist „die EU …eine Rechtsgemeinschaft, in der der [europäische] Gerichtshof  eine entscheidende Rolle hat“ (ebenda: 122 ). – Aus diesen letzten Empfehlungen der beiden Apologeten der liberalen Demokratie kann geschlossen werden, dass ein konkordanzdemokratisches Kerneuropa entstehen sollte, in dem der vom Europäischen Gerichtshof vorgeprägte Rechtsraum, nicht nur auf der kommunalen, sondern auch auf der regionalen und auf der obersten Ebene mit Kollegialorganen ausgestattet wird und die endgültigen Entscheidungen in Volksabstimmungen herbeigeführt werden. Damit würde – den Prinzipien des demokratiefreundlichen „Lokalismus“  folgend  –  eine „Heimstatt der Demokratie“  für Europäer „unterschiedlicher Herkunft und Orientierung“  (Dahrendorf 2003:119) entstehen, dessen  Vorbild die Schweiz wäre, die Ernest Renan in seinem Vortrag „Was ist eine Nation?“ an der Sorbonne im Jahr 1882,als „Willensnation“ bezeichnet hatte (vgl.Wikipedia):   

Im Mittelalter fügten Bauern am Vierwaldstätter See ihre dörflichen Gemeinwesen zu den  Kantonen Schwyz, Uri und Unterwalden zusammen. 1291 beschworen die Urkantone den  „Ewigen  Bund“, um die Herrschaft Adliger abwehren zu können, die der Habsburger Kaiser ihnen als  Grundherren vorsetzen wollte. Der ewige Bund war so stark, dass ihm die Städte Luzern, Glarus, Zug und schließlich sogar die Reichsstädte Zürich und Bern beitraten. Danach kämpften Bauern und Stadtbürger –  trotz unterschiedlicher Standesinteressen und vier verschiedener Sprachen – dreihundert Jahre lang gemeinsam gegen mächtige Fürsten, um nicht deren Untertanen werden zu müssen! Der Gemeinsinn und die militärische Tüchtigkeit der  Eidgenossen wurden legendär (vgl. die Schlacht von Sempach 1386) und als die Schweizer ab 1516 ihre Neutralitätspolitik betrieben, wurde auch diese respektiert. Die Eidgenossenschaft aus Bauern und Stadtbürgern zerbrach auch 1525 nicht, als in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft das Bürgertum der reichen schwäbischen Städte mit dem Adel paktierte, um zehntausende Bauern abzuschlachten, Jerg Rathgeb (Herrenberger Altar) zu vierteilen und Tilman Riemenschneider so grausam zu foltern, dass dieser nie mehr ein Kunstwerk schaffen konnte (vgl. Röhrig 2007: 608): die beiden hoch angesehenen Künstler hatten zwischen den Kriegsparteien vermitteln wollen! Die Eidgenossen hielten ihren Bund aus dem Dreißigjährigen Krieg heraus und im Westfälischen Frieden 1648 rangen sie dem Europa der Fürstenherrlichkeit die Unabhängigkeit ihrer Republik ab!

Als im 19. Jahrhundert die Franzosen die Gloire ihres Nationalstaats wieder herzustellen trachteten und die Deutschen und die Italiener ihre Nationalstaaten gründeten, wollten die deutsch sprechenden Schweizer nicht Deutsche, die französisch sprechenden Schweizer wollten nicht Franzosen und die italienisch sprechenden Schweizer wollten nicht Italiener werden, sondern die kulturell-heterogene „Willensnation“  (s.o.Renan, 1882)bleiben. Auch während des dreimonatigen Sonderbundkriegs (1848) war die Eidgenossenschaft nie gefährdet. Und als die Nationalstaaten von 1914 bis 1945 Europa in sein zweites dreißigjähriges Chaos stürzten, blieb die Schweiz inmitten Europas, erneut die Insel des wehrhaften Friedens und des Wohlstands – Die Vermutung liegt nahe, dass die kulturell und sozioökonomisch unterschiedlichen Schweizer auch deshalb „die Willensnation“  (s.o Renan) bleiben wollten, weil sie ihr Gemeinwesen nach den Prinzipien des demokratiefreundlichen„Lokalismus“ (vgl. Dahrendorf 2003: 118) subsidiär aufgebaut hatten: seit dem Frühmittelter stimmten die Wahlberechtigten in ihren Gemeinden und in ihren Kantonen über alle wichtigen Angelegenheiten direkt ab: heute ist das in einem Kanton immer noch so; in den anderen 25 Kantonen werden Kantonalsräte gewählt. Als die Eidgenossen 1848 die moderne Schweiz schufen, konstitiuerten sie auch auf der Bundesebene ihre Exekutive als Kollegialorgan, in dem seither alle wichtigen politischen Strömungen vertreten sind. Die endgültigen Entscheidungen werden in Volksabstimmungen gefällt.

Zum Vergleich sei daran erinnert, dass in Deutschland Kollegialorgane erst im neunzehnten Jahrhundert „von oben“ herab und nur auf der kommunalen Ebene eingeführt wurden (vgl. Schoeps 2004: 305). Die Schweiz war nicht ihr Vorbild, obwohl  „zivilisierte Gemeinwesen  dann ihre größte Stärke zeigen, wenn sie eine gewisse Größe haben. Das braucht nicht die Vereinigten Staaten von Amerika zu sein; die Schweiz reicht durchaus“ (Dahrendorf 2003: 39).

Diese Meinung vertrat 2014 erneut der Österreicher Joseka Fischer. In seinem Buch  “Was die Schweiz kann, kann auch das Europa der Regionen“. Darin warf er u..a. die wichtige Frage auf, wie Euroregionen entstehen sollten, wofür Dahrendorf ebenfalls einen Denkansatz hinterließ:„Die Stadt ist die Heimat der Demokratie“! (Dahrendorf 2003:116.); daraus kann geschlossen werden, dass die Euroregionen von den großen Kulturstädten –  von den Innovationszentren der Regionen ausgehend –  „von unten her“ (s.o. Beck), entstehen sollten.

Das würde Euroregionen von den deutschen Bundesländern grundlegend unterscheiden, denn die meisten der Letzteren sind  von oben herab geschaffene Gebilde: Sachsen ist ein Überbleibsel der Fürstenherrlichkeit; Bayern,Württemberg und Baden wurden von Napoleon erfunden und die anderen deutschen Flächenländer sind Kunstgebilde der Militärregierungen nach dem Zweiten Weltkrieg: von Städten aus, Euroregionen subsidiär schaffen, hieße republikanisch und  europäisch handeln, denn deren „… Tendenz zur Selbstorganisation ist seit dem 11. Jahrhundert …das Kennzeichen der europäischen Zivilisation“ (Benvenolo 1999: 45).

Demzufolge sind Kommunalpolitiker großer europäischer Kulturstädte dazu berufen, das „Europa der Regionen“ zu fordern. Das tun sie nicht obwohl Wissenschaftler und Publizisten dazu  immer wieder auffordern: als 2017 der Katalonien-Konflikt europaweit diskutiert wurde, rief die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot aus:„Die Nationalstaaten müssen weg – es lebe die europäische Republik …das Europa der Regionen“ (DER SPIEGEL 18/19.4. 2017); der österreichische Journalist Menasse und sein deutscher Kollege Augstein forderten, die europäischen Regionen sollten aus ihren Nationalstaaten austreten (vgl. SPIEGEL ONLINE v. 23.10. 2017), weil die Regionen „das Gewachsene“, aber Nationen nur das „Erkämpfte“(ebenda), das von Dynastien einstmals Zusammengezwungene seien. Der Schwede Rosberg meinte, die Regionen seien „Europas viele Heimaten“ (LETTRE INTERNATIONAL, Herbst 2017: 25) und als das Saarland, Lothringen und Luxemburg kulturelle Kooperationsprogramme vereinbarten, bezeichnete die Kulturwissenschaftlerin Dr. Eva Mendgen das entstehende „Saar-Lor-Lux“  als „Das Reich der Mitte“ (Mendgen 2013).

Guerot,, Menasse, Augstein und Rosberg unterschieden nicht zwischen den „von unten“ (s.o. Beck) entstehenden, die republikanische Öffentlichkeit subsidiär herstellenden Euroregionen und den von „oben herab“ errichteten deutschen Bundesländern. Dies zu erörtern wäre aber wichtig, weil im Gegensatz zu dem „neuen Regionalismus, der …..nicht selten mit Gewalt verfochten wird, …. der Lokalismus nicht demokratiefeindlich“  [ist](Dahrendorf 2003: 118).

Ein Kerneuropa das aus subsidiär, nach den Prinzipien des Lokalismus aufgebauten kulturell-heterogenen Konkordanzdemokratien bestünde, wäre von schlichter Schönheit und bezwingender Vernunft: so wie die Nationalversammlung der Schweiz aus Nationalrat und Ständerat besteht, so hätten auch die Parlamente der supranationalen europäischen Konkordanzdemokratien zwei Kammern: in die erste würden aus europäischen Listen Abgeordnete gewählt und in der zweiten Kammer wären die Euroregionen vertreten. Dieses Zwei-Kammer- Parlament wäre – wie in der Schweiz – für alles zuständig: Staatsoberhaupt, Regierung, Gerichtswesen, Militär, Außenpolitik; die dominierende Stellung des Parlaments hätte sein Gegengewicht  in den direktdemokratischen Rechten der Bürger. Die Basis der konkordanzdemokratischen Republiken bestünden aus den Kommunen. Diese könnten vorerst so bleiben wie sie sind, denn auch in Deutschland koexistierten vierzig Jahre lang sehr unterschiedliche Kommunalverfassungen (vgl. Klein 2003: 136ff) und während der letzten 50 Jahre schlossen –  über alle alten Nationalstaatsgrenzen  hinweg – Städte und Gemeinden Partnerschaften. Das Vorbild Schweiz zeigt, dass es für die Vereinigung Europas gut wäre, wenn für alle europäischen Kommunen die Schweizer Kommunalverfassung gälte, denn in der Schweiz werden nur die kommunalen Kollegialorgane, in Deutschland werden aber auch die Gemeinde – und Stadtoberhäupter direkt gewählt. Das verschafft den Letzteren ein politisches Übergewicht: viele deutsche Stadtoberhäupter fühlen sich berufen, den Bürgerwillen ebenso artikulieren zu dürfen, wie die Gemeinde-und Stadtratsversammlungen, denn sie sind auch Vorsitzende derselben, sie stellen deren Tagesordnungen auf; sie haben  i.d.R. das alleinige Antragsrecht und sie sind Chefs/Chefinnen der Kommunalverwaltungen. Diese Machtfülle ist nur in der bayerischen Kommunalverfassung abgemildert, weil dort die kommunalen Ressortchefs und Ressortchefinnen, (ReferentInnen), ein weisungsunabhängiges Antragsrecht“  haben.Wiedas Urteil desBayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 7. 9. 1980 zeigt,missachtetedies der ehemalige Münchner Oberbürgermeister Kiessl, wogegen der Münchner „berufsmäßige Stadtrat“, Dr. Klaus Hahnzog – klagte und gewann. –  Eine Biographie über den ersten bayrischen Ministerpräsidenten nach dem Zweiten Weltkrieg, Dr. Wilhelm Hoegner, legt die Vermutung nahe, dass dieser das weisungsunabhängige Antragsrecht der Wahlbeamten auch deshalb in die bayerische Kommunalverfassung von 1952 hineinschrieb, weil er von 1933 bis 1945 im Schweizer Exil lebte: „.. nach dem Vorbild der Schweiz empfahl er auch die Einführung der unmittelbaren Demokratie durch Volksbegehren und Volksentscheid, die in der endlich genehmigten Fassung des Artikels 74 BV freilich durch außerordentliche Bedingungen erschwert wurden“ (Baumgärtner 1957: 38). 

Im 21. Jahrhundert ist deutlich geworden, dass Konkordanzdemokratien krisensicherer wären als Konkurrenzdemokratien, weil die Ersteren nur sehr schwer in Präsidialdemokratien umgewandelt werden könnten: Diese Erkenntnis ist wichtig geworden, nachdem es Erdogan gelang, die türkische Demokratie zuerst in eine Präsidialdemokratie und dann in eine Autokratie umzuwandeln. Da Konkurrenzdemokratien repräsentaive Demokratien sind, ist es notwendig, auch das Mentekel von „Das Ende der repräsentativen Politik“  (Tormey 2015) zu bedenken: der britisch-australische Poltikwissenschaftler wies zwar daraufhin, dass „die repräsentative Demokratie nicht vor dem Zusammenbruch“ (ebenda: 205) stehe, aber er betont, dass die Konkurrenzdemokratien reformbedürftig geworden sind: z.B. wiesen die Bundestagspräsidenten Lammert und Schäuble  jahrelang vergeblich darauf hin, dass sich der Deutsche Bundestag aufblähe und Gefahr laufe, handlungsunfähig zu werden. Eine Ursache dafür ist, dass in Deutschland Mandate nur von Parteien und nicht etwa nach Vorwahlen vergeben werden. Das hat zur Folge, dass diejenigen, die Politiker werden wollen, sich schon im Schüleralter einer Partei anchließen und somit in ihre politische Arbeit keine außerparlamentarische Berufserfahrung einbringen können. Sie beschließen ihre Diäten und ihre Ruhestandsregelungen selbst, diese erscheinen traumhaft; „viele [Mandatsträger] haben Nebeneinkünfte“, die oft „im Nebel“ bleiben (NOZ v. 3. 8. 2022: 5), weil das „…Lobbyregister nur halbherzig nachgeschärft“ (vgl, NOZ v. 2.8. 2022) wird und manche wechseln in lukrative Posten ihrer Lobbys über, was die Tendenz verstärkte, Repräsentanten in Demokratien als eine der Kasten der sich selbst Privilegierenden, wahrzunehmen. In einer Zeit, in der die „liberale Ordnung unter Druck“ (Dahrendorf 2003: 106ff, vgl. a. Münkler 2019: 257-276) gerät, müssen die Repräsentanten der liberalen Demokratien aber höchstes Ansehen genießen!

Davon hängt auch die Zukunft Europas ab: noch in der Ära Kohl/Mitterand galten Deutschland und Frankreich gemeinsam als das Epizentrum des zukünftigen vereinigten liberal-demokratischen Europa: Der ehemalige deutsche Außenminister Fischer dachte an „einen europäischen Bundesstaat, womöglich angeführt von einem deutsch-französischen Kerneuropa“  (Posener 2007: 109). Die Rechtspupulistin Marine le Pen kündigte 2021 jedoch an, wenn sie die Wahl gewinne, werde sich Frankreich von Deutschland abwenden. Das konnte nicht verwundern, nachdem die meisten deutschen Politiker gegenüber den Vorschlägen des europabegeisterten Emmanuel Macron Jahre lang ihre Skepsis demonstriert hatten.

Die „politisch-psychoanalytische“ Studie von Annette Simon (DIE ZEIT 4. Juli 2019: 37) legt die Vermutung nahe, dass die neue deutsche Europamüdigkeit und Europaskepsis auch innenpolitische Gründe haben könnte: die ostdeutsche Autorin stellte fest, dass sich die meisten Ostdeutschen auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch als „Bundesbürger zweiter Klasse“  fühlen; 2022 meinten gar 45% (!) der Ostdeutschen, die Bundesrepublik Deutschland sei eine „Scheindemokratie“ (Neue Osnabrücker Zeitung v.12.4.2022). Das ist tragisch, weil dies mit Geld nicht mehr behoben werden kann: am 24.9. 2019 hatte die gleiche Zeitung berichtet, dass die Gefahr der Altersarmut in Ostdeutschland nun geringer sei als in Westdeutschland und der Dresdner Politologe Hans Vorländer stellte fest, dass fast alle PEGIDA-Anhänger wohlsituiert sind (vgl. DER SPIEGEL Nr. 35/24.8.2019:19).

Das zwingt, die Hauptursachen „für die Fruststimmung im Osten – von den Erfolgen der AfD bis zur falschen Glorifizierung der DDR“ (DER SPIEGEL Nr. 27/27.6.2020:72), erneut zu erörtern: 1990  hatte die Bundesbank angemahnt, in der DDR – Auslandsbilanz seien 4,4 Ostmark für 1 DM berechnet worden. Als der westdeutsche Finanzminister einen Umtausch von 2:1 vorschlug, zogen „Zehntausende …durch die Straßen Leipzigs und Ost -Berlins und beschimpften Kohl als Wahlbetrüger“ (ebenda: 71.); die politisch erzwungene Währungsunion 1:1 hat dann „die siechen DDR-Betriebe mit ihren hohen DM- Kosten wettbewerbsunfähig gemacht“ (ebenda) und eine Massenarbeitslosigkeit ausgelöst. – Wie der hohe Anteil der 18-30-Jährigen, unter den AfD-Wählern bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Jahr 2021 vermuten lässt, wurde dennoch immer noch weiter erzählt, die BRD habe westdeutschen Kapitalisten erlaubt, sich eine noch funktionierende DDR – Wirtschaft einzuverleiben, obwohl die Kommentare zweier ostdeutscher Protagonisten der Wendezeit zeigen, dass dies schon längst – zuletzt von Norbert F. Pötzl –  richtig gestellt worden war: „Die Treuhand ist ein negativer Mythos. Jeder zweite Ostdeutsche kann trübe Geschichten über sie erzählen, erlebt oder vom Hörensagen…Es ist an der Zeit, ihre wirkliche Geschichte zu erzählen…“ (Wolfgang Thierse in Pötzl 2019: Einband Rückseite) „Wer sich in Zukunft zur Treuhand äußern will, muß dieses Buch lesen, weil es die erste Darstellung ist, die auf Akteneinsicht beruht“ (Richard Schröder, ebenda). Das außergewöhnliche Rettungswerk des ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth, der die Firma Zeiss in das wiedervereinigte Deutschland hinübermanagte, wäre als deutsch/deutsche Erfolgsgeschichte hervorzuheben.

Auch an manches, was damals Westdeutsche umtrieb, sollte wieder erinnert werden: 1989 war für  meisten Westdeutschen die Vereinigung Europas wichtiger geworden als die Geburt eines um „ein Viertel seines Territoriums“ (Kossert 2008: 9) verkleinerter deutscher Nationalstaat und diejenigen, die damals schon die Oder-Neiße.Grenze anerkennen wollten, wurden noch von der CDU/CSU und von den Vertriebenenverbänden des Landesverrats verdächtigt. – Westdeutsche verstimmte auch, dass ihre international hoch angesehene Bundesbank im „Kampf gegen die finanziellen Folgen der Vereinigung, die Zinsen massiv in die Höhe schrauben musste, was sie zur bestgehassten Institution in vielen Ländern Europas machte“ (DER SPIEGEL 27/27.6. 2020: 72). Der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass  beschwor seine Landsleute, Deutschland nicht zu vereinigen; die meisten Westdeutschen folgten aber Willy Brandt, der meinte, nun wachse zusammen, was zusammen gehöre. Die meisten Westdeutschen schienen auch lange verstehen zu können, was es für die  Ostdeutschen bedeutete, nicht nur ihre Arbeitsplätze sondern auch „das gewohnte soziale Netzwerk, der Sportclub, der Betriebschor, die Kulturgruppe“ (ebenda) verloren zu haben, denn als sich 2019 DIE LINKE immer noch weigerte, anzuerkennen, dass die DDR ein Unrechtsstaat gewesen war, erinnerte niemand mehr daran, dass die alte Bundesrepublik über dreißig tausend Ostdeutsche aus Stasigefängnissen frei kaufte. Auch die „fünftausend Milliarden“ DM (Waigel), welche die BRD aufbrachte, um die Wiedervereinigung finanzieren und die weiteren Milliarden DM, die sie in der Wendezeit an die UdSSR überweisen musste, um einen Militärputsch gegen Gorbatschow, die Wiederaufrichtung der Mauer verhindern und die Rückführung der sowjetischen Streitkräfte finanzieren zu können, wurden von Westdeutschen nicht mehr geltend gemacht. Auch das Buch von Ilko-Sascha Kowalczuk „Die Übernahme“ hat in Westdeutschland kein Aufsehen erregt, obwohl darin stand:„Europa hat die Herzen der allermeisten Menschen [in Ostdeutschland] noch nicht erreicht“ (Kowalczuk 2019: 278); das hätte verwundern können, weil die erste frei gewählte Volkskammer der DDR 1990 beschlossen hatte, freiwillig in den Geltungsbereich des Grundgesetzes einzutreten und in dessen Präambel schon damals stand:„Deutschland hat .als gleichberichtigtes Mitglied in einem vereinten Europa , dem Frieden der Welt zu dienen“ .

Seit den Landtagswahlen im Jahr 2019 mehren sich die Anzeichen, dass sich in Westdeutschland die Stimmung ändert: nachdem ein Viertel der Thüringer die AfD wählte, obwohl ein Gericht entschieden hatte, dass ihr Vorsitzender als „Faschist“ bezeichnet werden dürfe, seit die AfD in Ostdeutschland Volkspartei geworden ist und deren Protagonisten im Kreml antichambrieren, scheinen immer mehr Westdeutsche daran zu zweifeln, dass sich viele Ostdeutsche nur vorübergehend „…im Status des Opfers eingerichtet“ hatten,sichnur zeitweise „….von Verantwortung entlastet“  fühlen möchten und nur noch eine Zeit lang „Rücksichtnahme“ und „Vorzugsbehandlung“ (Gauck in DER SPIEGEL Nr. 25/15.6.2019: 34) beanspruchen wollen. Viele Westdeutsche befürchten nun, dass  zu viele Ostdeutsche die endgültige Westbindung Deutschlands infrage stellen. Das erschiene Westdeutschen reaktionär, denn eine Studie (vgl. Greiffenhagen, 1979: 321) hatte bereits in den 70iger Jahren des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass sie schon damals eine Wertegemeinschaft der „Verfassungspatrioten“ (Habermas), westlicher Prägung geworden waren und damit – schon lange vor der Wiedervereinigung – erkannt hatten, dass der deutsche Sonderweg zwischen West und Ost für die europäische Katastrophe von 1914 bis 1945 ursächlich gewesen war!     

Solche Mentekel müssen ernst genommen werden, weil die deutschen Sicherheitsapparate der  zahlreichen Verletzungen des Grundgesetzes nicht mehr Herr werden, mancherorts sogar der Eindruck entstand, dass Vertreter derselben ihn nicht bekämpfen wollen: so ist zu fragen, warum der Bundesanwalt die im Rheinland stationierte GSG 9 in Sachsen einfliegen lassen musste, um dort Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verhindern zu können, warum es die sächsische Landesregierung vermied, PEGIDA zu verbieten, obwohl diese mit ihrer „vulgärrationalistischen Islamkritik“ (Bade 2013: 373) Jahre lang Art.4 und Art.18 in Verbindung mit Art.16,2 des Grundgesetzes verletzte. Geradzu Justizversagen war zu registrieren, als ein Gericht in Sachsen-Anhalt den Vertreiber von CDs mit dem Titel „Adolf Hitler lebt“ , frei sprach ( ARD-Doku v. 8.4.2020). Mit Blick auf die gesamte Bundesrepublik ist auch zu fragen, warum die NSU – Morde und die Morde von Hanau immer noch nicht ganz aufgeklärt sind, warum die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten, Dr.Lübcke, nicht verhindert wurde, warum ein Frankfurter Gericht rechtsradikale Umtriebe in der Polizei und in der Bundeswehr bagatellisierte (ZDF v. 12.2.2020: DIE ANSTALT,  u. DIE ZEIT v. 30/31.7. 2022: 11ff) und warum das alles ausgerechnet in Hessen geschah, das noch in den 60iger Jahren des letzten Jahrhunderts Weltruhm erlangt hatte, als sein legendärer Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer (1903-1968) – unterstützt von seinem ebenfalls legendären Ministerpräsidenten Georg August Zinn (1901-1976) – noch durchsetzte, dass  Adolf Eichmann 1960 vom Mossad gefasst werden und von 1963-1968  – gegen den erbitterten Widerstand von Altnazis im deutschen Justitapparat in Frankfurt drei  Auschwitz-Prozesse stattfinden konnten. Schließlich müssen sich die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat fragen lassen, warum sie noch zögern, das Verbot der AfD zu beantragen, denn nach vielen Austritten wird die AsD nun von Vertretern des verfassungsfeindlichen „Flügels“ beherrscht (vgl. DER SPIEGEL NR.16/11.4.2020:25). – In Deutschland ist auch der Eindruck entstanden, es sei erlaubt, den Geltungsbereich des Grundgesetzes zeitweise verlassen zu dürfen: auf einer Veranstaltung in Köln vereehrten türkisch-stämmige Deutsche Erdogan wie ihren Erlöser als dieser die Integrationsbemühungen Deutschlands als menschenrechtswidrige Assimilationsversuche verunglimpfte (vgl. DER SPIEGEL Nr. 15/7.4.2018); es befremdet schon lange, dass „Deutschtürken“…zwar die antiwestlichen Tiraden des türkischen Autokraten ….bejubeln, für sich selbst aber doch gern die Errungenschaften der europäischen Demokratien und sozialen Marktwirtschaften behalten möchten“ (Blume 2017: 33ff.). Politisch instinktlos handelte der DFB-Bundestrainer: in einer Zeit, in der Erdogan auch Deutsche widerrechtlich inhaftierte, priesen zwei Spieler der deutschen Fußball-Nationalmannschaft diesen öffentlich als ihren Präsidenten; dennoch durfte einer derselben weiterhin für Deutschland spielen.

Ebenso verstörte, dass Russlanddeutsche für Putin demonstrierten: nachdem der russische Präsident Jelzin den 1941 von Stalin nach Kasachstan deportierten Russlanddeutschen verboten hatte, in ihre Heimat an der Wolga zurückzukehren (wohin Katharina die Große einst ihre Vorfahren eingeladen hatte), bot Bundeskanzler Kohl den Russlanddeutschen an, deutsche Staatsbürger zu werden, wonach drei Millionen kamen. Das hinderte manche Russlanddeutsche aber nicht daran –  russische Staatsflaggen schwenkend – Putin öffentlich zu verehren, obwohl bekannt geworden war, dass russisches Militär die ukrainische Zivilbevölkerung massakriert hatte. Auch die russlanddeutschen Putin-Versteher wollen nicht in das Reich ihres Idols zurückkehren, obwohl sie ihre in Deutschland erworbenen Vermögen und Rentenansprüche mitnehmen dürften!

Der „Liberal-Islamische Bund“,…. das „Muslimische Forum Deutschland“ und „der islamische Religionspädagoge Abdel-Hakim Ourghi“ kritisierten die deutsche Politik, „mit den konservativen [muslimischen] Verbänden die falschen Ansprechpartner anzuerkennen“ (vgl. Blume 2017: 40). Nachdem der „Moscheereport“ von Konstantin Schreiber nachwies, dass in Moscheen in Deutschland gegen die liberale Ordnung gehetzt und die Gläubigen aufgefordert werden, nach der Scharia zu leben, ist daran zu erinnern, dass 86% der Deutschen meinen – islamische Organisationen, welche die religiösen Gebote über das Grundgesetz stellen, sollten verboten werden (vgl. DIE ZEIT Nr.24 10. 6. 2021: 9). Das wäre rechtens, weil der Europäische Gerichtshof  schon vor Jahren feststellte, dass die Scharia mit europäischem Recht unvereinbar ist (vgl. Urteil des EuGH zu den „islamischen Menschenrechten“!              

Der tschechische Historiker Jacques Rupnik (vgl. LETTRE INTERNATIONAL 125, Sommer 2019: 7ff) legte dar, warum auch manches von dem, was seit zehn Jahren in Osteuropa geschieht, schwerwiegende Folgen für Europa haben wird: nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs, verstößt die polnische Regierungspartei PiS gegen europäisches Recht, weil sie eine der beiden Säulen der liberalen Ordnung, nämlich „die Herrschaft des Rechts“ (Dahrendorf 2003:125), schleifen will. Nachdem Ungarn und Polen ihre Betrittsversprechen brachen, kann die EU eigentlich nur noch gerettet werden, wenn die EU-Länder, in denen noch die liberale Ordnung gilt, beschließen, aus der EU auszutreten, um eine liberaldemokratische EU-West gründen zu können. Eine solche Trennung einer EU mit ausschließlich liberalen Demokratien von den iliberalen EU- Ländern, hätte für beide Seiten sogar Vorteile: die iliberalen Demokratien müssten nicht mehr befürchten, dass ihre höchsten Güter,“Vaterland und Religion“ (LETTRE INTERNATIONAL Sommer 2019: 13) von dem säkularen, angeblich multikulturellen Westen moralisch gefährdet werden und die liberalen Demokratien wären nicht mehr verpflichtet, die antisemitische, zugleich islamophobe Korruptokratie in Ungarn und die bizarren Wählerfangprogramme der homophoben, die Kopenhagener EU- Vereinbarungen brechenden polnischen PiS mitzufinanzieren. Und wenn in einem ostdeutschen Land eine Mehrheit zustande käme, die meint, es sei ein historischer Fehler gewesen, einst in die kulturell westliche Bundesrepublik eingetreten zu sein, könnte diesem erlaubt werden, aus der Letzteren wieder auszutreten – so wie das Gorbatschow schon einmal seinem Leipziger Publikum empfohlen hatte (vgl. Gorbatschow 2015: 461). Es ist paradox, dass „dort, wo die Demokratie am stärksten bedroht ist, in Polen und in  Ungarn, auch die Zustimmung der Bevölkerung zur Mitgliedschaft in der EU am größten ist“ ( LETTRE INTERNATIONAL 125 – 2019:15); die Tatsache, dass in Polen und in Ungarn Mehrheiten Regierungen wählen, welche die EU-Verträge brechen, zeigt, dass die iliberalen EU-Länder auf die Gelder erpicht sind, die überwiegend von den liberaldemokratischen EU- Ländern erwirtschaftet werden. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung (vgl. DER SPIEGEL Online vom 7.10. 2019) zeigt aber, dass die EU- Gelder nur vertragstreuen, liberaldemokratischen Mitgliedsländern zugute kommen sollten, weil diese ihre Bürger vor sozialem Abstieg bewahren müssen, um ihre liberalen Ordnungen schützen zu können, weil  – die Schweiz und Großbritannien ausgenommen – in Europa die Demokratie in Gefahr gerät, wenn sie nicht Wohlstand „liefert“ (vgl. Dahrendorf 2003: 112). Geradezu unerträglich ist es, dass Korruptokraten die liberaldemokratischen EU- Geberländer nicht nur ausbeuten, sondern auch verhöhnen können, ohne Folgen befürchten zu müssen: „1989 dachten wir hier, dass Europa unsere Zukunft ist; heute haben wir den Eindruck, dass wir die Zukunft Europas sind“ (Orban in LETTRE INTERNATIONAL, Sommer 2019: 7).

Eine Trennung liberaldemokratischer Länder von iliberalen EU-Mitgliedern wäre für Europa  auch   deshalb gut, weil auf den Territorien der liberalen Demokratien der europäische Einigungsprozess vertragsgemäß fortgesetzt werden, aber die EU-West nach dem westfälischen Prinzip der gegenseitigen Nichteinmischung (vgl. Kissinger 2014: 11) auch mit den iliberalen Ländern weiterhin Handel treiben könnte. Liberale und iliberale Demokratien könnten sogar gemeinsam in der NATO bleiben, solange Russland noch den Anspruch erhebt, die Schicksale seiner Nachbarstaaten bestimmen zu dürfen.

Dieses „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ (Fischer, Joschka 2018/2019: 126) wurde immer wieder beschworen, aber bisher von niemandem ernsthaft erwogen, obwohl diese dichotome Vorgehensweise lange Zeit erfolgreich praktiziert worden war: 1949 verpflichteten sich die Westdeutschen (GG: Praämbel), nicht nur für sich, sondern auch für die Ostdeutschen so lange voraus zu denken, voraus zu planen und voraus zu handeln, bis Deutschland in Freiheit wiedervereinigt sein werde. Eine dieser Deutschlandpolitik vergleichbare Europapolitik würde also überall dort, wo die liberale Ordnung noch gilt, Europa vereinigen und alle, welche die liberale Ordnung nicht errichten oder wieder beseitigten, müssten von der liberaldemokratischen EU fern gehalten werden, behielten aber die Option, in diese wieder eintreten zu können, wenn sie, ihren heutigen Oppositionen folgend, die Kopenhagener Beitrittskriterien und die Verträge von Maastricht und Lissabon wieder erfüllten.                    

Im 21. Jahrhundert muss die liberale Ordnung in Europa auch aus geopolitischen Gründen Vorrang haben: 2017 ging mit den amerikanischen Präsidentschaftswahlen das US- amerikanische Zeitalter Europas zu Ende: die Europäer hatten 500 Jahre lang die Welt beherrscht (vgl. Hoffmann 2017); im 20. Jahrhundert wurden sie auf den westlichsten Zipfel der eurasischen Landmasse zurückgedrängt und danach mussten sie sich hundert Jahre lang von den USA beschützen lassen: mit ihrem Kriegseintritt im Jahr 1917 verhinderten die USA den Sieg des militaristischen deutschen Obrigkeitsstaates über Europa, ab 1941 – nachdem Hitler den USA mit dem „rätselhaftesten seiner Entschlüsse“ (Haffner 1989: 293), dem„..schon damals mächtigsten Staat der Erde…“ (ebenda: 296) den Krieg erklärt hatte – retteten die USA die liberalen Ordnungen in Europa, in Indien, in Australien und in Neuseeland und errichteten sie in Japan, Südkorea und Taiwan; nach 1945 bewahrten die USA Europa und weite Teile Asiens davor, kommunistisch zu werden und noch in den 90iger Jahren des 20. Jahrhunderts, mussten die Europäer die Amerikaner zu Hilfe rufen, um die Völkermorde auf dem Balkan eindämmen zu können. – Damit können das Kriegsverbrechen der G.W-Bush-Adminstration im Irak, die Verletzungen der Menschenrechte durch US- Amerikaner in Vietnam, Guantanamo und die Kumpaneien der US-Regierungen mit den Massenmördern der Militärjuntas in Chile und in Argentinien, nicht entschuldigt werden; aber wahr bleibt: ohne die USA gälte die alles entscheidende liberale Ordnung in Europa und in Asien schon lange nicht mehr!  

Im 21. Jahrhundert werden sich die USA mehr dem indopazifischen Raum zuwenden; die Europäer müssen demzufolge hinfort mit US-Administrationen rechnen, die nicht mehr glauben, dass Europa „Amerikas unverzichtbarer geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent“ (Brzezinski 2000: 91) ist; außerdem hat die „America first“ – Bewegung den seit Jahrzehnten schwelenden „Antieuropäismus in Amerika“ (Ash 2010: 267) mehrheitsfähig gemacht: im 21. Jahrhundert werden die US-Amerikaner nicht mehr allein die einzigen „Hüter“ des Weltfriedens sein wollen (vgl. Münkler 2019: 395).

Darauf hatte Jeremy Rifkin schon früh  hingewiesen: er meinte, im 21. Jahrhundert dürfe sich die westliche Welt auf die Amerikaner allein nicht mehr verlassen, denn „der viel beschworene Amerikanische Traum konzentriert sich zu sehr auf das individuelle Vorankommen und zu wenig auf das Allgemeinwohl.“ (Rifkin 2004: 2). – In seinem Buch „Der europäische Traum“ (2004) erwähnte der amerikanische Vorausdenker Michail Gorbatschows Vision „Großeuropa“ (vgl. Gorbatschow 2015: 500) nicht; aber die Visionen beider ergänzen sich.

Gorbatschows Vision „Großeuropa“ verwirklichen zu sollen, wird den Menschen in der russischen Föderation viel abverlangen, denn „sieben von acht typischen Wesensmerkmalen der westlichen Zivilisation – Religion, Sprachen, Trennung von Kirche und Staat, Rechtsstaatlichkeit (rule of law), sozialer Pluralismus, Repräsentativkörperschaften, Individualismus – sind  der russischen Erfahrung  fast völlig fremd“ geblieben (Huntington 1996: 219); andererserits ist die kulturelle Europäisierung Russlands aber auch schon lange nicht mehr undenkbar, denn seit Beginn des 19. Jahrhunderts ringen russische „Slawophile wie Westler“ um sie: „Die Westler“ wollen eine „gründliche Europäisierung“  Russlands; die Slawophilen wollen „durch eine Ausschaltung europäischer Einflüsse …zur wahren Seele Russlands“ zurückkehren (ebenda: 221).

Russische Intellektuelle meinen, nun implodiere dieser Kulturzwist: „Russland ist am Rande des Nervenzusammenbruchs“ angekommen; dessen Kennzeichen sind: „Triumph der Trägheit“, landesweite Psychose“ und „Sadomasochismus“ . „Die gedemütigte [russische] Nation, von der eigenen Elite ausgeraubt, hat  [nur noch] eine psychologische Kompensation in der imperialen Ideologie und militärischen Rhetorik gefunden“ (Liza -Alexandrowa-Zorina in LETTRE INTERNATIONAL 119, Winter 2017: 42ff). „Die Oligarchen haben sich ganz Russland in die Tasche gesteckt ..Putin kommt aus dem sowjetischen Geheimdienst…er ist kriminell sozialisiert“ (Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in DER SPIEGEL Nr. 6 v. 5.2.2022: 124) und Sorotkin schrieb, „wie Putin die russische Kulturnation zerstört…es [Russland]ist ein zerfallender Staat“ (DER SPIEGELNr 16 v. 16. 4. 2022: 46ff). – Das wirft die Frage auf, warum es Putin immer wieder gelingt, mit Militäraktionen Mehrheiten zu beeindrucken, denn 80% stimmten ihm zu, als er die Krim annektierte und „70% der Bevölkerung identifizieren sich laut einer aktuellen Umfrage….“  (DER SPIEGEL Nr. 6, v. 5.2.2022: 113) mit ihm, seit er die Ukraine angreift.

Aufflammende nationalistische Bewegungen haben historische Wurzeln: Russland hat seine „Zeit der Wirren“, die sog. Smuta von 1598-1613 ganz anders als Europa seinen Dreißigjährigen Krieg erlebt: während Europa 1648 das westfälische „System unabhängiger Staaten“ schuf, die „davon  Abstand nahmen, sich in die inneren Angelegenheiten der anderen einzumischen“ und „durch ein allgemeines Gleichgewicht der Kräfte zu kontrollieren suchten“, haben die Russen dies mit einem „einzelnen, absolut regierenden Herrscher, einer einheitlich religiösen Orthodoxie und mit einem Programm territorialer Expansion in alle Himmelsrichtungen“ (Kissinger 2014: 11ff.) beantwortet; viele Russen sind immer noch davon überzeugt, dass dies die Sowjetunion am besten  verwirklicht hatte: „Putin gehört zu einer sehr großen….übersehenen Schicht von Menschen, die noch ….im Kontext des Zusammenbruchs der Sowjetunion, nach Revanche suchten. Revanche ….bedeutete für sie, die Wiederauferstehung des großen Staates.“ (Pawlowski in Atai 2019: 31); spätestens seit Putin offenbarte, dass der „slawophile Faschist“ Iwan lljin (1883-1954) sein wichtigster „Ideengeber“ sei (DER SPIEGEL Nr. 15/ 9.4. 2022: 118), müssen die Europäer sogar damit rechnen, dass die russischen „Imperialnationalisten“ (vgl. Atai 2019) vom Gegenkonzept Gorbatschows, nämlich von dem eines „antiliberalen, eurasischen Reichs von Lissabon bis Wladiwostok“  (DER SPIEGEL Nr. 5/6.4. 2019: 18) träumen.

Deutsche Wirtschaftsführer und deutsche Politiker, aber auch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, haben dies lange Zeit gerne übersehen, denn es schien zwingend logisch, das wirtschaftsschwache aber rohstoffreiche Russland, mit dem rohstoffarmen, aber wirtschaftsstarken Europa dauerhaft zu verflechten: dies versprach kurzfrisitig gute Geschäfte, mittelfristig die kulturelle Europäisierung Russlands und langfristig „Großeuropa“ .

Fast alle übersahen, worauf Gorbatschow – zuletzt 2015 in seinem Buch „DAS NEUE RUSSLAND“ – hingewiesen hatte: Putin erhebt gegen den Westen „Vorwürfe ideologischen und philosophischen Charakters“ (Gorbatschow 2015: 442). das zeigte:Putin hatte sich die „Neue Chronologie“ des russischen Mathematikers Anatoli T. Fomenko (Wikipedia) zueigen gemacht, obwohl diese von dem ebenfalls russischen, aber international renommierten und preisgekrönten Linguisten Andrei Salinsnjak  (Wikipedia) als wissenschaftlich unhaltbare „russisch-nationalistische“  Phantasterei entlarvt worden war (vgl. v.a. Kostioukovitch in LETTRE INTERNATIONAL *137* Sommer 2022: 12ff). – Das zeigte, dass die von Russland unter Jelzin garantierte Unabhängigkeit der Ukraine, nun gefährdet war, weil Putins Lieblingsphilosoph, Iljin propagiert hatte, Russland könne ohne die Ukraine gar nicht Russland sein. Die Ukraine war  schutzlos geworden, weil sie ihre Atomwaffen Russland freiwillig überlassen hatte und die Ukrainer wussten auch, dass die Mehrheit der Russen Putin folgen würde, wenn er die Ukraine „heim“ holen wollte. Der Hassausbruch der Russen dann aber doch überrascht:„Da geht es um den jüngeren Bruder Ukraine, der als Verräter gesehen wird, weil er besser leben will als du selbst“ (DER SPIEGEL Nr.32 v. 6.8.2022.42) und die Nachrichten, wonach russische Frauen die Ukrainerinnen hassen, weil es diesen besser gehe als ihnen (vgl. Ganijewa, Lebedow in Neue Züricher Zeitung v. 21.4. 2022), entsetzten.

Fazit: zwar haben hunderttausende oppositionelle Russen „ihr Land in den vergangenen Monaten verlassen“ (DER SPIEGEL Nr.32 v. 6.08. 2022: 32), aber für die große Mehrheit „ist“ Putin „das Volk“ (ebenda: Titelblatt). Tooze befürchtet, dass die westlichen Sanktionen die russische Mittelschicht radikalisieren und Putin dies ebenso nutzen könnte, wie der Ruin der deutschen Mittelschichten in der Weimarer Republik, Hitler zu gute gekommen war (DER SPIEGEL Nr. 10/5.3.2022: 40).

Ein Jahr zuvor hatte die NEUE ZÜRICHER ZEITUNG noch berichtet, dass in Russland „eine neue Generation aufgestanden“ sei (Ackeret in NZZ v. 24. 1. 2021) und wenig später hatte DER SPIEGEL noch geschrieben: „Für die jüngeren Russen ist die Ukraine Ausland. Es kränkt sie nicht, wenn ein Land nach Westen strebt“ (DER SPIEGEL Nr. 32 v. 6.8.2022: 42). Beides ließ hoffen, dass  nach der „Generation Putin“ (Bidder 2016) die Enkel-Generation Russlands die liberaldemokratische Avantgarde hervorbringen werde, die – wie die Demonstranten in Minsk, in Moskau und in Chabarowsk im Jahr 2020 – das Thema „Russland und die Demokratie „ (Gorbatschow 2015: 518ff) voran bringen werde. Die Enkel Russlands sind der Propaganda der Staatsmedien nicht so schutzlos ausgeliefert wie ihre Altvorderen, weil sie im Internet und damit in der ganzen Welt unterwegs sind und weil sie die Sowjetunion nicht mehr erlebten; für sie gilt:„Die Globalisierung schafft etwas, was nie zuvor existiert hat: eine globale kosmopolitische Gesellschaft“ (Giddens in Dahrendorf 2003: 133). Tooze meinte, dass sich auch manche der Älteren, die „sich an die Neunziger Jahre nicht nur mit Schrecken erinnern“ (DER SPIEGEL Nr. 10 v. 5.3. 2022: 41) den Enkeln anschließen könnten und vielleicht würden auch Ältere, die dem Ruf „Weltbürger aller Länder vereinigt euch“ (Beck in Dahrendorf 2003: 145) nicht folgen wollen, aber schon lange erkannt haben, dass „…die Mißstände in Wirtschaft und Infrastruktur nur in Zusammenarbeit mit den hochtechnisierten Staaten Westeuropas“ behoben werden können (Scholl-Latour 2013: 327), ihre  Enkel unterstützen.

Den Mahnungen (insbesondere deutscher Politiker), die Europäer sollten gegenüber den herrschenden Imperialnationalisten um Putin weiterhin nachsichtig bleiben, weil Russland seine chinesische Option wahrnehmen werde, muss entschieden widersprochen werden: an die blutigen sowjetisch-chinesischen Grenzstreitigkeiten im Jahr 1969 am Amur erinnern sich auch die Imperialnationalisten; viele Russen beargwöhnen schon lange, dass Millionen Chinesen in Sibirien bereits eingewandert sind (vgl. Huntington 1996: 394ff) und der Blick vom 1858 gegründeten Blagoweschtschensk am russischen Nordufer des Amur mit seinen 216000 Einwohnern, hinüber zu der jungen hypermodernen Mega-City HEIHE auf dem chinesischen Südufer des Amur mit ihren 1,75 Mio. Einwohnern, führt den Russen vor Augen, dass Rot- China – ebenso wie das alte Reich der Mitte – sein „Außen expansiv integrieren“  will( Beck/Grande 2004: 92;  vgl. a. Huntington 1996: 379 ff). Davon ist nicht nur Sibirien betroffen, denn China hat sein imperiales Projekt, die „neue Seidenstraße“, bereits auch in anderen traditionellen Interessenssphären Russlands, nämlich im Kaukasus und auf dem Balkan (s. Serbien), vorangetrieben.

China hat Russland aber nicht nur wirtschaftlich und militärisch, sondern auch innenpolitisch weit überholt: China hat die von den russischen Imperialnationalisten ersehnte, aber von diesen nie erreichte „Vision einer totalen Überwachung, die George Orwells Vision heute schon übertrifft“ (NOZ 4.12. 2018: 26) längst verwirklicht!

Russland wird auch der„Resurgenz des Islam“ (Huntington 1996: 168ff) nicht so begegnen können, wie China mit den Uiguren umgeht, denn „Russland hat es unter Putin nicht geschafft, den Tschetschenienkonflikt dauerhaft zu lösen….“ (Nolte 2008: 447). Auch in Russland wird es zum „Euro-Islam“ (vgl. Tibi 1998: 257) keine Alternative geben, was ebenfalls dafür spricht, dass für Russland nicht China sondern letztlich Europa die Option sein wird.

Der Euro-Islam wird der Enkel-Generation in Großeuropa allerdings eine schwere Aufgabe aufbürden: noch 2013 beklagte Hans-Ulrich Wehler „die äußerst mangelhafte Intergrationsbereitschaft der zugewanderten Türken, deren zweite und dritte Generation inzwischen auch an dieser Anpassungsaufgabe“ versage (Wehler 2013: 143ff), Hamed Abdel-Samad meinte, die „Hinwendung der „Islamverbände“ zum „Konservativismus“ (Orth 2016: 107) zeige, dass der Vorwurf berechtigt ist, die Mehrheit der Muslime in Europa lasse immer noch Integrationsbereitschaft vermissen, am 23.7.2018 berichtete DIE WELT, die europäischen Länder ließen es zu, dass in Europa tausende kleiner muslimischer Mädchen beschnitten werden, DIE NEUE ZÜRICHER ZEITUNG schrieb am 17.01. 2021, die „Islamisierung Berlins“ vertreibe Menschen jüdischen Glaubens und homosexueller Orientierung und am 21. 7. 2022: 3 berichtete die STUTTGARTER ZEITUNG, der Verband Islamischer Kulturzentren (VIZ) propagiere das „Kinderkopftuch“ und „den Westen als Feindbild“. Nur der islamische Theologe Mouhanad Korchide ist optimistischer: er meint, dass  „ein neuer Ansatz  islamischer Theologie“ (in Orth, Hsg. 2016: 59) und die „demokratischen Strukturen in Deutschland, liberale Muslime …“ (ebenda: 113ff) hervorbringen werde.

Der Optimismus Korchides einerseits und die Befürchtungen aller anderen Beobachter andererseits, legt es nahe, nachzuprüfen, was der vor 25 Jahren beschriebene und beschworene „Euro-Islam“ (s. Tibi 1998) inzwischen bewirkte: Die VertreterInnen des Euro-Islam – Tibi, Özdemir, Kelek, Kermani, Korchide, Mansour, Abdel-Samad, die muslimischen Bürgermeister von London und Rotterdam, die muslimische Vizebürgemeisterin der Stadt Oslo und die türkischstämmige Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg – sind vorbildliche europäische VerfassungspatriotInnen. Sie treten nicht nur für „ein weltoffenes… selbstbewußtes Europa der Aufklärung“ (Tibi 1998: 9) ein; sie kritisieren auch die „falsche Toleranz“ (Mansour) der europäischen Aufnahmegesellschaften, die mit ihrer postmodernen „…grundsätzlichen Beliebigkeit aller Optionen und  Richtungs und Orientierungslosigkeit“ (Dahrendorf 2003: 45), konservative Muslime zu der irrigen Annahme verleiten, sie könnten auch in Europa nach der Scharia leben. – Wie Abdel Samads neuestes Buch „Aus Liebe zu Deutschland“  erneut eindrucksvoll dokumentiert, können die VertreterInnen des Euro-Islam zu den wenigen Europäern gerechnet werden, die fordern: „Demokratie nur für Demokraten“ (Hoegner in Baumgärtner 1957: 38);  „eine reale Demokratie fußt auf wacher Wehrhaftigkeit und unbedingter Parteinahme – mit klar begrenzter Toleranz für ihre Feinde“ (Bong 2022: 560).

Von solcher Kampfbereitschaft ist die Mehrheit der Europäer noch weit entfernt: 2022 hat sich  Europa erneut unfähig erwiesen, ohne die USA ein europäisches Volk beschützen zu können, das angriffen wurde, weil es zu Europa gehören möchte. Eine Mehrheit in Ostdeutschland (s. ZDF-Politbarometer 8.9.2022) verlangt das Ende der Sanktionen gegen Russland, weil sie materielle Nachteile befürchtet. Wie Dahrendorf voraussah (s.w.o., Dahrendorf 2003:112), ist das im Land der Magna Charta anders:obwohles den meisten Briten seit geraumer Zeit schlechter geht als den  meisten Deutschen (vgl. DER SPIEGEL 10.9. 2022: 92), ein Brite 2021 „mit einem bewundernden Blick von außen“  ein Buch mit dem Titel „Warum Deutschland alles besser macht“ (Krampfner, Hamburg, 2021) veröffentlichte, sind in Großbritannien keine PolitikerInnen wie Alice Weidel und Sahrah Wagenknecht in Sicht, die WählerInnen einreden können, es sei ihr gutes Recht – eigener Vorteile wegen –  die Massaker an einem Nachbarvolk achselzuckend hinzunehmen.           

Deutschland ist mit 84 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste und das wirtschaftsstärkste Land. Der Koloß müsste Europa anführen, er hat sich aber entwaffnet, er verfügt nur noch über ein Staatsgebiet, das zwei Drittel Spaniens ausmacht, auf dem nur 69 Mio. Menschen leben. Ein Viertel seiner Bevölkerung will seine Westbindung nicht mehr und akzeptiert seine liberale Demokratie nur dann, wenn sie Wohlstand „liefert“. Der Sicherheitsbericht 2018 des Bundesinnenminsters zeigte: die größte Gefahr für Europa geht davon aus, dass in Deutschland der Rechtsradikalismus „unterschätzt“ wird (vgl. DER SPIEGEL Nr.26/22.6.2019:6  u..27/29.6.2019: 22), denn dieser ist islamophob, antisemitisch, antiliberal und antieuropäisch; er hat in Parlamenten Verbündete und er ist gewaltbereit, aber die deutschen Sicherheitsapparate – insbesondere die Justiz – scheinen diese Gefahr nicht bannen zu können. Niklas Frank, der Sohn des Naziverbrechers Hans Frank: kommentierte dies so: „Unter den 80 Millionen Deutschen … sind allenfalls 20 Millionen echte Demokraten, von denen sich höchstens Hunderttausend aktiv für die Demokratie einsetzen“ (in VIVANTY, 2019/11:71).  Dem wird die Hypothese entgegen gestellt:

Die Enkel, die aufgestanden sind, das Weltklima, respektive die Welt zu retten, werden im 21. Jahrhundert auch Europa neu erfinden wollen:                                                                                                                                                                                                                              

Die Explikationen (s.o.) nähren die Hoffnung, dass die Enkel Europa als „die [ursprünglich] einzige Quelle für Ideen wie indiviuelle Freiheit, politische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und kulturelle Freiheit“ (Schlesinger jr. in Huntington 1996: 515) wiederentdecken und daraus schlussfolgern werden, dass die noch bestehenden liberalen Ordnungen in Europa krisenfest gemacht, die liberalen Ordnungen in Ostmitteleuropa wieder hergestellt, auf dem Balkan und in Russland errichtet und der Euro-Islam im Nahen Osten und in Nordafrika die kulturelle Deutungsmacht erlangen muss (s.o. Peres). – Dafür hat das liberaldemokratische Europa bereits alle Mittel: 2019 erwirtschafteten die liberaldemokratisch gebliebenen Länder in Europa ein Bruttoinlandsprodukt von 18051211 Mio.US-$, womit sie – ohne die iliberal gewordenen Ungarn und Polen, ohne die wieder prekär gewordenen Tschechien, Slowakei und Malta, ohne die prekär gebliebenen Rumänien, Bulgarien und Zypern, ohne die immer noch labilen EU-Kandidaten Albanien, Kosovo, Bosnien und Nordmazedonien, ohne das Putin-freundliche und zugleich china-hörige Serbien und ohne die reislamisierte und neoosmanische Türkei – die Konkurrenz mit China (14731806 Mio US-$) glänzend bestanden und den USA (21433225 Mio.US-$) zeigten, dass das liberaldemokratische Europa auch im 21.Jahrhundert der wichtigste Verbündete der Nordamerikaner sein wird.

Nachdem die Europäer fünfhundert Jahre lang die Welt beherrschten, ihre Nationalstaaten von 1914 bis 1945 Europa in dessen zweites dreißgjähriges Chaos stürzten, iliberal und vertragsbrüchige EU-Mitglieder begannen, die EU zu zerstören und Deutschland – inmitten Europas – dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung kulturell gespalten ist, aber Ralf Dahrendorf und Ulrich Beck zuletzt empfahlen, das liberaldemokratische Europa möge nach den Prinzipien des demokratiefreundlichen „Lokalismus“ (Dahrendorf s.o.) von „unten her neu “ (s.o. Beck) aufgebaut werden –  sprechen alle Vernunftgründe dafür, dass die liberaldemokratischen Mehrheiten der deutsch, französisch, italienisch und niederländisch sprechenden Enkel in Mittelwesteuropa, die der spanisch, katalanisch, baskisch und portugiesisch sprechenden Enkel auf der  iberischen Halbinsel und die der englisch, skandinavisch, finnisch und baltisch sprechenden Enkel in Nordwesteuropa, je eine    Konkordanzdemokratie schaffen möchten und diese drei zu der neuen liberaldemokratischen EU zusammenfügen wollen. Dieses krisensichere, weil konkordanzdemokratische Kerneuropa wird Ausgangsbasis und Rückfallversicherung für die Konkurrenzsdemokratien sein, mit denen liberaldemokratische Avantgardes in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan die liberale Ordnung wieder herstellen, mit denen die Gorbatschow-Versteher in Belarus und in Russland die liberale Ordnung errichten und mit denen die Avantgardes des Euroislam im Nahen Osten und in Nordafrika die Deutungshohheit der liberalen Ordnung erringen werden.

Diese Genossenschaft – bestehend aus dem krisensicheren, weil konkordanzdemokratischen Kerneuropa einerseits und aus kämpferischen Konkurrenzdemokratien andererseits – wird für die Vereinigung Europas ausreichen, denn Großeuropa soll „eine Supermacht vielleicht, ein Superstaat auf keinen Fall“ (Posener 2007: 109) werden und deshalb auch der monströsen Institutionen der EU nicht weiterhin bedürfen (vgl. Dahrendorf 2003: 121). Die liberalen Demokratien werden nur den gemeinsamen Bereich „Verteidigung“ institutionalisieren müssen; auf allen anderen Gebieten werden sie informell zusammenwirken können, weil sie Immanuel Kants Vision „Zum ewigen Frieden“ (1775) nahe kommen werden: die Geschichte und alle Studien zum Thema „Demokratie und Frieden“ (s. Internet) zeigen nämlich, dass republikanisch verfasste Gemeinwesen einander nicht angreifen! Und auch das, wozu der Philosoph in seiner späteren Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) aufforderte, könnte damit gewährleistet werden: Kant betonte, in ihrem Inneren dürfe eine Republik keine „Idylle vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe“ (in Dahrendorf 2003: 136) sein, denn „in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht und Genügsamkeit blieben alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen“  (ebenda:135ff); die kreativen, weil freien Individuen, sollen wetteifern, denn die Kreativität jedes Menschen muss sich frei entfalten dürfen, um allen nutzen zu können.

Diese „ungesellige Geselligkeit“ (ebenda: 145) der vielen Einzelnen innerhalb der europäischen Republiken einerseits und der Friede der europäischen Republiken untereinander, andererseits, wird den westlichen Kulturkreis von all den Gesellschaften unterscheiden, die im 21. Jahrhundert von unkritisierbaren Exegeten des unkritisierbaren Koran (s.o. Abdel Samad) beherrscht und von Apologeten konfuzianischer und marxistischer Provenienz in „Groß-China“  (Huntington 1996: 268) zwangsbeglückt werden. Deren Endzeit-Ziele „Umma“ und „Reich der Mitte“ zeigen, dass sie die Weltherrschaft anstreben. Sie werden aufrüsten, sie werden ihre inneren Beherrschungssysteme perfektionieren und sich gegen die liberalen Demokratien verbünden, denn die Schicksale der chinesischen Studenten auf dem Platz des himmlischen Friedens, das der Ukrainer, der Georgier, der Moldawier und das der Menschen in Honkong und Taiwan zeigen, dass Oligarchen, Autokraten und Diktatoren schon dann in Panik geraten, wenn wehrlose und friedfertige Bürger in ihrer Nähe die liberale Ordnung lediglich erwägen. Demzufolge wird es auch im 21. Jahrhundert noch keine „Weltdemokratie“ (Dahrendorf 2003: 142) geben können. Aber ein Weltbündnis der Demokratien, das seine Mitglieder beschützt aber auch gleichzeitig respektiert, dass  „alle Menschen auf dem Weg in ein Zeitalter sind, wo unterschiedliche Zivilisationen lernen müssen nebeneinander in friedlichem Austausch zu leben“ (Huntington 1996: 530), wird möglich sein. – Innerhalb des globalen Verteidigungsbündnisses der liberalen Demokratien wird eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft der liberalen Demokratien in Europa (EVG) unabdingbar sein, denn seit der Syrien-Krise und seit den US-Präsidentschaftwahlen 2017, ist klar, dass die Interessen des Westens in Europa, in Nahost und in Nordafrika künftig von den Europäern wahrgenommen werden müssen. Als transatlantischer Partner Europas wird Kanada wichtiger werden, denn der britische Historiker G.T. Ash meint, ist Kanada –  kulturell gesehen – „das ideale EU-Mitglied“ (Ash 2010). Auch aus geopolitischen Gründen wird Kanada eine wichtigere Rolle spielen, weil die liberalen Demokratien, die von Vanvcouver bis Wladiwostokentstehen sollen, in der göbalisierten Welt sowohl transatlantisch als auch transpazifisch zusammenwirken werden.

Die Enkel werden ihr Europa vermutlich aber erst in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts zustande bringen (3-5) können, weil sie Versäumnisse ihrer Altvorderen korrigieren (1,), Fehlentscheidungen  derselben (2) vermeiden und Gesellschaften mobilisieren müssen, in der „nur jeder Zehnte zwischen 15 und 24″ (NOZ v. 26.7.2022 : 1) Jahre alt sein wird. – Europa wird sich um Südamerika  kümmern müssen (6) und Afrika, südlich der Sahel-Zone, wird eine Aufgabe sein, die des koordinierten Einsatzes des o.b. Weltbündnisses der liberaldemokratischen Länder bedarf (7):          

1. AlsAssad und Putin 2014 das syrische Volk mit Chemiewaffen massakrierten, lehnte der amerikanische Kongress den Vorschlag des 44. Präsidenten ab, die USA sollten eingreifen. Das hätten die Europäer tun müssen, denn es war voraus zu sehen, dass das westliche Nichtstun die EU zerstören würde: ohne die Massenflucht aus Syrien im Jahr 2015 wären der IS, der BREXIT, die Wahlsiege der vertragsbrüchigen Nationalkonservativen in Polen und die Korruptokratie in Ungarn, sowie der Aufstieg der AfD zur Volkspartei in Ostdeutschland wohl nicht möglich gewesen!

2. Hamed Abdel-Samad kündigte ab 2040 den „Untergang der islamischen Welt“ an, weildiese im „Kulturkampf“ zwischen „Sunniten und Schiiten“ zerrieben und „das Erdöl zur Neige“ gehen werde (Abdel-Samad 2011: 224ff). Das zeigt, dass die Politik des 45. US-Präsidenten, den Einfluss des Iran mithilfe Saudiarabiens eindämmen zu wollen, Europa schaden würde, denn der sunnitische Islamismus Saudiarabiens ist ebenso gefährlich wie der schiitische des Iran und ein Krieg zwischen Saudiarabien und dem Iran würde den Nahen und Mittleren Osten vollends chaotisieren, mithin Europa endgültig destabilisieren. – Zwar meldete der 46. US-Präsident die USA wieder „zurück“,  dennoch werden die USA künftig erwarten, dass die Europäer die Interessen des Westens in Europa, im Nahen Osten und in Nordafrika wahrnehmen. Aus amerikanischer Sicht ist das berechtigt, weil sich das liberaldemokratische Europa schon 2019 auf 300 Mio. Einwohner hätte stützen können, über das zweitgrößte Bruttoinlandsprodukt der Welt verfügte, von der (potentiellen) „Führungsmacht Deutschland …“(Mangasarian/ Techau 2017) und von den Atommächten Frankreich und Großbritannien hätte angeführt werden können.

3. Die Bereitschaft Schwedens und Finnlands, in die NATO einzutreten und die Weigerung Erdogans, dem zuzustimmen, hätte die Europäer veranlassen müssen, zu erklären, dass die Türkei nur dann Mitglied der NATO bleiben und nur dann Mitglied der EU werden kann, wenn diese im Inneren die liberale Demokratie und mit allen Kurden das frühere friedliche Zusammenleben wieder herstellt, die neoosmanische Kriegsrethorik gegenüber Griechenland einstellt, die Angriffe des turkmenisch-islamischen Aserbeidschan auf das kleine urchristliche Volk der Armenier nicht weiterhin anheizt und im Nahen Osten und in Nordafrika den Euro-Islam fördert.        

4. „Im Russland der Gegenwart ist die Notwendigkeit eines Wandels wieder …zu spüren“ (Gorbatschow 2015: 500). Die jungen Russen, welche die „…historische Entscheidung Russlands für den europäischen Weg“ (ebenda: 442) ersehnen, sind zwar noch ohnmächtig; die jungen Gorbatschow-Versteher in Belarus und in Russland sind aber heute schon davon überzeugt, dass „die  bizarre Mischung aus sowjetischen, zaristischen und orthodoxen Ideen“ (Atai 2019: 281 ff) die letzten tiefen Seufzer des Putin-Regimes sind; der 41-jährige Chefredakteur des ehemals unabhängigen russischen Senders Doschd, Mikhail Zygar schrieb: „Meine Tochter hat Gorbatschow gemocht…..“Ich habe keine Zweifel, dass künftige Generationen in ihm einen Helden und Gründervater sehen werden…..Trotz des Hasses und der Verständnislosigkeit kann Gorbatschow zu einem Moses für das künftige Russland werden. Er hat nicht bis zum Ende des Weges überlebt, auf den er seine Mitbürger gebracht hat. Doch irgendwann werden diejenigen sterben, die noch Sklaven der Sowjetunion sind. Putin wird man vergessen, an Gorbatschow wird man sich erinnern.“ (DER SPIEGEL Nr 36/3.9.2022: 16).    

5.„Chinas konfuzianisches Erbe mit seiner Betonung von Autorität, Ordnung, Hierarchie …dem Supremat des Kollektiven vor dem Individuellen…“ (Huntington 1996: 585), mit seinem  „moralischen Überlegenheitsanspruch“ (ebenda: 501), ist entschlossen, sein „Außen [erneut]…. expansiv [zu] integrieren“ (Beck/Grande 2004: 92ff). „Die neue Rolle Chinas als Kernstaat und Magnet“ (ebenda: Huntington 1996: 269) wird zur Folge haben, dass die meisten Länder am Indischen Ozean und am Pazifik zuerst mit „Großchina …verflochten “ (ebenda) und dann von ihm abhängig sein werden; im 21. Jahrhundert werden nur noch Australien und Neuseeland, vielleicht noch Japan und Südkorea, aber weder die muslimischen Pakistan und Indonesien, noch Indien werden der Welt der lieberalen Demokratien angehören.

6. Wie das Ringen um eine neue Verfassung (europäischer Provenienz) in Chile und der Kampf der republikanischen Brasilianer gegen die Trumpisierung ihres riesigen Landes zeigen, müssen Europa und (das kulturell europäische) Kanada, den Südamerikanern helfen, mit europäischen Konzepten aus dem „Katastrophen-Kapitalismus“ (Naomi Klein, Frankfurt a. M. 2007: 83ff) auszusteigen, den sie einst von den nordamerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern um Milton Friedman  übernommen hatten und auch die Monroe-Doktrin ist obsolet geworden.

7. Für Afrika, südlich der Sahel-Zone gilt: angesichts der Vorliebe der meisten Potentaten Afrikas für Russland und für China, bedarf es einer Entwicklungspolitik westlicher Prägung, die zu der erfolgreichen chinesischen „Von oben – herab-Politik“, eine subsidiäre  liberaldemokratische Alternative anbietet. Diese wird eine das gesamte Jahrhundert andauernde Gemeinschaftsaufgabe der Weltgemeinschaft der liberalen Demokratien sein. 

Nachwort: 2022 gibt es ermutigende Vorauszeichen: die jungen kurdischen KämpferInnen, welche das Volk der Jesiden retteten, den IS besiegten (vgl. LETTRE INTERNATIONAL 133, Sommer 2021: 36) und die Kurden, welche um die Millionenstädte Erbil und Sulaimaniyya ein blühendes Gemeinwesen westlicher Prägung schufen, sind im Nahen Osten die Avantgardes des „Euro-Islam“ (Tibi 1998) und die jungen Menschen, die in Minsk, in Moskau, im fernöstlichen Chabarowsk und in der Ukraine 2020 begannen, die liberale Ordnung zu erkämpfen, zeigten: „Die Zukunft Europas muss nicht nur vom Westen aus gestaltet werden, sondern auch vom Osten aus“ (Gorbatschow, 2015: 439). „Nur: nichts von alledem geschieht von selbst. Es kann auch ganz anders kommen; die tätige Freiheit bleibt die oberste Maxime“(Dahrendorf:2003:149).

                                         -Literaturnachweise –

Abdel-Samad, Hamad: Der Untergang der islamischen Welt, München 2010

Abdel- Samad, Hamed : Aus Liebe zu Deutschland, München 2020

Ash, T. G.: Jahrhundertwende, München 2010

Atai, Golineh: Die Wahrheit ist der Feind, warum Rußland so anders ist, Berlin 2019

Bade, Klaus J.: Kritik und Gewalt, Schwalbach  2013   

Baron, Andrea (Hgn): Hintergedanken, Weltbilder, Frankfurt 2012

Baumgärtner, Franz-Josef: Münchner Porträts – Wilhelm Hoegner, München-Köln 1957

Beck, Ulrich/Grande, Edgar: Das kosmopolitische Europa, Frankfurt 2004

Benevolo, Leonardo: Die Stadt in der Geschichte, München 1999

Bidder, Benjamin: Generation Putin, München 2016

Blume, Michael: Islam in der Krise, Patmos-Verlag 2017

Bong, Jörg: Die Flamme der Freiheit, Kiepenheuer & Witsch 2022

Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht, Fankfurt 2000

Clark, Christopher: Die Schlafwandler, München 2015

Dahrendorf, Ralf: Auf der Suche nach einer neuen Ordnung, München 2003

Fischer, Joschka: Der Abstieg des Westens, Köln 2018 /2019

Goldhagen, Daniel Jonah: Hitlers willige Vollstrecker – ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996 

Gorbatschow, Michail: Das neue Russland, Köln (Quadriga) 2015

Greiffenhagen, Sylvia u. Martin: Ein schwieriges Vaterland, München 1979

Haffner, Sebastian: Von Bismarck zu Hitler, München 1989

Hamm-Brücher, Hildegard: Freiheit ist mehr als ein Wort, Köln 1996 

Hoegner, Wilhelm: Flucht vor Hitler, München 1979

Hoffmann, Philip T.: Wie Europa die Welt eroberte, Darmstadt 2017

Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen, München-Wien 1996

Kampfner, John: Warum Deutschland es besser macht, Hamburg 2021 

Kissinger, Henry: Weltordnung, München 2014

Klein, Armin: Kulturpolitik, Opladen 2003

Klein, Naomi: Die Schock- Strategie, Hamburg 2007

Kowalczuk,Ilko-Sascha: Die Übernahme, München 2019

Kossert, Andreas: Kalte Heimat, München  2008

Mangasarian /Techau : Führungsmacht Deutschland ,München 2017 

Mansour, Ahmad: Klartext zur Integration: Gegen falsche Toleranz und Panikmache, Fankfurt a.M. 2018 

Mc Gregor, Neil: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten,  München 2013                                                                                     

Mendgen, Eva: Au Centre de l´Europe, im Reich der Mitte, Saarbrücken 2013

Montgelat/Nützel: Wilhelm Hoegner, München 1957

Münkler, Herfried u. Marina: Abschied vom Abstieg, 2019

Nolte, Hans Heinrich: Kleine Geschichte Russlands, Stuttgart 2008

Opaschowski, Horst W. : Deutschland 2030, Gütersloh/München 2008

Orth, Stefan (Hg.): Zur Freiheit gehört, den Koran zu kritisieren, ein Streitgespräch, Freiburg i. B, 2016 

Pötzl, Norbert F.: Der Treuhandkomplex, Hamburg 2019

Posener, Alan: Imperium der Zukunft München 2007

Renan, Ernest: Was ist eine Nation?, Vortrag an der Sorbonne am 11.3.1882

Rifkin, Jeremy: Der europäische Traum, Fankfurt 2006

Röhrig, Tilman: Riemenschneider , München/Zürich  2007

Schoeps, Hans Joachim: Preußen, Geschichte eines Staates, Hamburg 2004

Scholl-Latour, Peter: Die Welt aus den Fugen, Berlin 2014

Tibi, Bassam: Europa ohne Identität?, München 1998

Tormey, Simon: Vom Ende der repräsentativen Politik, Hamburg 2015

Ude, Christian: UDE, die Reden, Berlin-München 2014

Unger, Craig: Trump in Putins Hand, Berlin (Econ- Verlag) 2018

Verhofstadt, Guy: Die Vereinigten Staaten von Europa, Eupen 2006

Wehler, Hans-Ulrich: Die neue Umverteilung, München 2013